Woran merkst du, dass du eine Mermaid bist? Also nicht das, was Märchenonkel Hans Christian Andersen als rettungssuchende „Meerjungfrau“ bezeichnet hat. Sondern ein Weibsbild mit Salzwasser in den Venen und dem Meer als bevorzugtem Lebensraum? Vielleicht fühlst du dich am Ozean so gelassen und inspiriert wie nirgendwo sonst. Kannst der Natur nahekommen und buchstäblich in sie eintauchen. Und erlebst auf den Wellen echte Glücksgefühle – oder Demut, wenn sie dich beim Wipe Out abwerfen.
Bei mir trifft alles zu. Schon als kleiner Hosenscheißer hatte ich quasi Schwimmhäute zwischen den Fingern, und heute dank dem Surfen sowieso. Ich will dem Ozean ein würdiger Gast sein, der sich zu benehmen weiß. Gleichzeitig war ich lange auf der Suche nach meinem Happy Place am Meer. Auf Weltreise stieß ich auf einen ernsthaften Kandidaten: Tofino auf Vancouver Island an der Westküste Kanadas! Ein kleiner Ort mit einer freundlichen Surf Community, fantastischen kalten Wellen und warmherzigen Menschen. Dort wimmelte es vor modernen Mermaids, die ihr Leben dem Meer widmen. Hier erzähle ich ihre Geschichten und was wir, die vom Strandhäuschen noch träumen, von ihnen lernen können.
1. Hard-charging mermaid: Sanoa ist Kanadas Surf-Meisterin
Als ich das letzte Mal in Tofino war, fand gerade der Rip Curl Pro statt. Am Strand fragte ich Locals, auf wen sie bei der kanadischen Surfmeisterschaft setzen würden. Bei den Männern? Pete Devries. Und bei den Frauen? Mathea Olin! Die 16-Jährige holte bereits 2016 den Titel. Doch die Prognosen bewahrheiteten sich nur fast: Nicht Mathea, sondern Sanoa Olin – deren 11-Jährige Schwester – wurde beste Surferin in der U12 und der Women’s Category! Damit heimste sie als jüngster weiblicher Champion aller Zeiten den Titel ein. Und war von ihrem Sieg selbst ganz schön überrascht.
(1) Sanoa hat gut Lachen, (2) Home Spot Cox Bay, (3) Auf dem Siegertreppchen neben Schwester Mathea, (4) Hawaii, (5) Black-white dreams in Tofino
Sanoa ist eine waschechte Mermaid mit tiefer Verbindung zum Meer. Schon als Knirps war sie Schwimmen und Bodyboarden, bevor sie mit 7 Jahren das erste Mal an der Cox Bay surfte, ihrem Lieblings- und Contest Spot. Praktischerweise kann sie von der elterlichen Blockhütte, die ganz in der Nähe steht, zu Fuß dorthin laufen. Was ihr am Surfen so gefällt? Dass jede Welle anders sei, sagt Sanoa. Neben Tofino mag sie die North Shore von Hawaii. Der passionierte Blondschopf will aber auch gern neue Orte sehen, wie die Malediven, Indonesien, Frankreich, Australien und Jamaika. Um dort das leckere Essen und die lokalen Wellen zu kosten.
A professional surfing career would be a dream come true, I've worked so hard these past few years and I am determined to make it happen. If you put your mind to it, you can do anything! (Sanoa)
Sanoas Geheimnis: So viel wie möglich surfen, die eigenen Grenzen erweitern und Spaß haben. Ihr Vorbild Nummer 1 ist Schwester Mathea, die weltweit auf Platz 9 der Junioren und damit bereits auf dem Radar der World Surf League ist. Na bei diesen Genen kann ja nichts schiefgehen! Und Sanoa lebt vor, wie man seine Träume anpackt. Ausreden gibt's nicht!
2. Sailing mermaid: Claire lebt auf einem Segelschiff
Beim Spaziergang am Hafen von Tofino läuft man an beeindruckenden Schiffen vorbei. Manche sehen mit ihren ulkigen Bullaugen, Gärtchen und Sitzbänken aus wie Mini-Häuser. Genau das sind sie auch, und auf einem davon lebt die Surfkünstlerin Claire Watson zusammen mit Mann und zwei Töchtern. Bei schönem Wetter trifft man die Grafikerin und Illustratorin bewaffnet mit Stiften, Tinte und Farbe an der Wasserfront. Das Outdoor-Office ist praktisch, denn wenn man auf einem Segelboot wohnt, hat man nicht gerade viel Platz. Doch das ist Claire, gebürtig von Vancouver Island, gewohnt. Schon als Kind hat sie Nordamerikas Küste per Boot erkundet, Lachsfischer begleitet und mit ihrem heutigen Ehemann ist sie sogar bis nach Mexiko gesegelt. Daher kam für nur ein schwimmendes Heim in Frage:
I love the simplicity and closeness to nature. I always know what the weather is doing, and where the tides are. My neighbours are sealions, river otters, and eagles. The minimalist lifestyle allows me to appreciate all the little things. (Claire)
(1) Claire hinter dem Steuer, (2) Sundowner auf dem Deck, (3) Zeichnen am Steg, (4) Giant Octopus, (5) Bull Kelp / Sea Nettle.
Ohne das Meer fühlt Claire sich wie ein Fisch auf dem Trockenen: Ihre tiefe Verbindung zur Küste, den Wäldern und schneebedeckten Bergen, den Stränden und dem wechselhaften Wetter spiegelt sich in ihrer Kunst wieder. Damit will sie die fragile Schönheit des Ozeans nicht nur festhalten, sondern ihm und seinen Bewohnern eine Stimme verleihen. Bull Kelp, Quallen und Tintenfische – am liebsten fängt Claire den Tanz von fließenden Objekten ein. Nicht nur auf Papier, sondern auch auf Surfboards! Sie selbst fühlt sich auf stabileren Schwimmobjekten wie Stand Up Paddling Brettern aber wohler. Was man von Claire lernen kann? Eine Mermaid kann aus der See Energie und Inspiration ziehen, selbst wenn sie am und nicht im Wasser lebt.
3. Mermaid sister: Krissy leitet die größte weibliche Surfschule der Welt
Sisters before misters. Keine lebt diesen Grundsatz so sehr wie Krissy von Surf Sister in Tofino. In ihrer Surfschule arbeiten seit der Gründung im Jahr 1999 ausschließlich weibliche Surflehrer. Damals war Surfen an Kanadas Westküste in den Anfängen und wurde fast ausschließlich von Männern betrieben. Das und die Tatsache, dass es keine Lady Wetsuits gab, hielt die meisten Frauen von den Wellen fern. Bis auf Krissy, die schon als Highschool Kid fast jedes Wochenende von ihrem Heimatort Nanaimo auf Vancouver Island nach Tofino pilgerte. Je nach Jahreszeit mit Longboard oder Shortboard. Schließlich verfiel sie den Wellen so sehr, dass sie als Studentin während der Semesterferien einfach blieb:
I just packed my car full of girlfriends and never moved back. If you want to be close to the ocean, you have to make that lifestyle a priority. Listen to your heart and not what others want you to do. (Krissy)
(1) Krissy beim Surf Contest „Queen of the Peak“, (2) Longboard, (3) Surf Sisters, (4) Krissy mit Sisters und Hahn im Korb, (5) Betriebsausflug, (6) Sunset, (7) Sliding Krissy
Im Studium hatte Krissy tagträumend eine Surferin aufs Papier gekitzelt und jene Zeichnung – noch heute das Surfschullogo – erreichte die damalige Surf Sister Chefin. Krissy war vom Fleck weg als Surflehrerin engagiert und übernahm etwas später die Surfschule. Mit der Intention, noch mehr Frauen zum Surfen zu motivieren. Ihr All Female Surf Instructor Team, das übrigens alle Geschlechter herzlich unterrichtet, war nur der Anfang.
Mit dem Queen of the Peak, einem jährlich im Oktober stattfindenden Surf Contest, stellt Krissy weibliche Surftalente ins Rampenlicht – von der 6-Jährigen bis zur Seniorin. Neben Benefits wie Kinder- und Hundesitting gibt es für die über 100 Teilnehmerinnen faire Preisgelder und eine verdammt gute Zeit. Im Januar haben die Surf Sisters selbst frei, um auf Reisen zu gehen. Krissy zieht es dann in die Tropen – und doch freut sie sich jedes Mal auf die Rückkehr ins kühle Tofino.
4. Flying mermaid: Lisa sieht das Meer täglich von oben
Ein knatternder Motor, ein vibrierender Sitz, das Steuer in den Händen. Zwei jubelnde Passagiere auf der Rückbank. Oben blauer Himmel, unten das funkelnde Meer! So sieht der Arbeitsalltag von Lisa aus. Die rothaarige Schottin ist Mitte 20, Wasserflugzeug-Pilotin bei Tofino Air und würde ihren Job niemals eintauschen. Schon im zarten Kindesalter flog sie in Europa, weil die Vorliebe für die hohen Lüfte in der Familie lag. Auf die Frage, was sie nach Tofino verschlägt, fangen Lisas Augen an zu funkeln: Fliegen über dem Meer war immer ihr Traum, und in der schottischen Heimat gab es eben keine Wasserflugzeuge. Also zog sie in die kanadische Wildnis und fliegt dort schon seit mehreren Jahren.
Live your dream. Even if takes your far away from home. (Lisa)
Christian und ich stehen unschlüssig bei Tofino Air vor der Tür. Wir wollen fliegen, doch haben zu wenig Geld. Lisa will fliegen und braucht Passagiere. Win-Win! Wir bekommen einen Rabatt und laufen zu dritt zu ihrer fliegenden Nussschale, die sanft im Hafen schaukelt. Kopfhörer aufsetzen, gleich wird es laut. Lisa startet den Motor. Erst gleiten, dann poltern wir über das Wasser, bis das kleine Wasserflugzeug schließlich abhebt.
(1) Lisa vor ihrem Vogel, (2) Blick auf dem Cockpit, (3) Berge und Meer – ein Ausblick den man nie vergisst
Was ich dann die kommenden 20 Minuten sehe, treibt mir vor Schönheit die Tränen in die Augen. Schneebedeckte Berge. Dichte grüne Wälder. Malerische Buchten und verlassene Strände. Das Meer inklusive Wölbung am Horizont. Dann erspähen wir Grauwale. Lisa grinst und setzt zum Spiralflug an. Sie seien hier gar nicht so selten, schreit sie über den Motorenlärm. Christian wird etwas grün im Gesicht. Und ich kann nur noch jubeln… Wieder an Land frage ich die fliegende Mermaid, ob Surfen nicht auch etwas für sie wäre. Lachend verneint sie. Am schönsten sei das Meer für sie von oben, weil man dann Dinge sieht, die anderen verborgen bleiben.
5. Singing mermaid: Sophie hat den Sound Tofinos
Von der modelnden Jazzsängerin zur bootsfahrenden Chorleiterin. Schon immer widmete Sophie ihr Leben der Musik. In Montreal studierte sie Gesang / Orchesterkomposition und sang in einer Jazz-Band. Doch die Blondine mit der rauchigen Stimme sehnte sich nach Tiefgang, wollte mehr liefern als Ambiance-Sound. So verschlug es sie für eine Auszeit ans andere Ende von Kanada. In Tofino verliebte sich Sophie als Wassertaxi-Fahrerin in den Ozean. Sie sang privat, als Gesangslehrerin und mit einer Freundin auf der Straße. Die Community nahm sie mit offenen Armen auf.
Use your talents to make others and yourself happy. (Sophie)
Doch erst 6 Jahre später gab Sophie das City-Life in Montreal auf und kehrte endgültig nach Tofino zurück. Denn sie hatte dort verschiedene Chöre aufgebaut, die sie nicht mehr im Stich lassen wollte. Erst einen Kinderchor, dann zwei Erwachsenen-Chöre in Tofino und dem benachbarten Ucluelet. Heute bringt Sophie so Menschen zusammen, ob alt oder jung, hip oder konservativ. Als Chorleiterin am Meer fühlt sie sich selbstbewusst und spirituell erfüllt wie nie zuvor, und genießt das Leben mit ihrem Hund Peepa in der Blockhütte.
(1) Sophie und Peepa (Foto: Anick Violette), (2) + (3) Wassertaxi mit Hund, (4) Sophie bei einer sommerlichen Outdoor-Chorprobe , (5) abendliche Jam Session
Und was ist mit dem Wassertaxi? Bei dieser Frage wird Sophie still. Das dramatische Bootsunglück in 2015 bestürzte sie zutiefst und seitdem fährt sie nicht mehr oft. Ein Wale Watching Boot war in großen Wellen gekentert und alle Passagiere kamen ums Leben. Auf einer Andacht war Sophie vom einem Lied ergriffen, das ein Ahousat-Indianer sang. Sie wollte es lernen, doch indigene Stämme dürfen ihr Kulturgut nicht mit Außenstehenden teilen. Das inspirierte die passionierte Chorleiterin, zusammen mit den Indianern die erste „Non-Religious Mass about the Ocean“ zu komponieren. Dafür bekam sie ein Kulturstipendium und kann Tofino nun einen eigenen Sound geben.
6. Adventurous Mermaid: Erin ließ Australien für Kanada zurück
Ein australisches Surfergirl wandert nach Kanada aus. Das klingt verrückt und ist genau das, was Erin aus der Nähe von Sydney getan hat. Die studierte Sportwissenschaftlerin hat in Australien Top-Athleten beraten und war heiß auf Schnee. Mit einem Work & Travel Visum in der Tasche durfte sie zwei Jahre nach Kanada und ist heute, einige Folge-Visa später, noch immer dort. Denn neben den Snowboard-Pisten in den Rockies haben es ihr auch die kalten Wellen auf Vancouver Island angetan. In den Wintermonaten arbeitet sie in den Ski-Resorts, den Rest des Jahres in Surf Shops und Restaurants an der kanadischen West Coast. Berge und Meer, Snowboarden und Surfen. Das ganze Jahr!
Trotzdem kann ich mir eine Frage nicht verkneifen: Du hattest warme Weltklassewellen vor der Haustür. Warum Kanada? Sie schmunzelt. Die Surfszene in ihrem Heimatland sei geprägt von Machos und gerade für Frauen tough. Jeder hat Pro-Surfer im Bekanntenkreis, das Surf-Level ist an allen Spots extrem hoch und die Stimmung nicht immer freundlich. Auf diese Aggressivität hatte Erin keine Lust mehr. In Tofino seien die Wellen zwar kalt, aber jeder wird in der Surf Community akzeptiert. Gemeinsames Frieren und die Liebe zum Ozean schweißen eben zusammen.
Be ready for adventures and live in the moment. Head and heart will guide your way! (Erin)
(1) Erin hat das Ruder für ihr Leben in der Hand, (2) Winterfreuden im Schnee, (3) Sommersurfleben in Tofino
Erin lebt ihr Mermaid Leben zwischen Kanadas Bergen und Meer, jenseits von ihrem studierten Berufsfeld. Doch das sei völlig okay, sagt sie. Meistens hat sie heute mehrere Jobs gleichzeitig, z.B. in einem Surf Shop und einer Bar. Nicht in erster Linie wegen dem Geld, sondern weil es sie stimuliert. Sie hat oft Zeit für ihre Lieblingssportarten und trifft jede Menge cooler Menschen. Von denen sie sich gern zu neuen Abenteuern anstiften lässt…
7. Spiritual mermaid: Lise verehrt die Natur
Auf der Suche nach einer warmen Jacke stolperte ich in den Castaways Value Store in Tofino. Eine kunterbunte Welt in einem wilden Hinterhofgarten voller Schätze. Inhaberin Lise ist die wohl naturverbundenste Frau der ganzen West Coast: Neben einer tannengrüne Vintage-Lederjacke versorgte sie mich mit selbstgebrautem Tee und Kräuterwissen für die Wildnis. Außerdem hat die weißhaarige Grande Dame mit der sanften Stimme ein Faible für selbstgebastelten Schmuck aus Bull Kelp, einer peitschenähnlichen Alge. Wir kamen ins Quatschen, über das Meer und das Leben.
Bull kelp is flowy, grows superfast and hangs on to rocks. That’s how life works as well: Be flexible but know your roots in order to grow. (Lise)
(1) Junge Lise am Leuchtturm / Bull Kelp (by Dan Hershman – CC BY 2.0), (2) Lise heute im Castaways Value Store in Tofino
Lise, die Landratte aus einer konservativen Familie in Manitoba, sah den Ozean das erste Mal als Jugendliche. Ein tiefer Freiheitsdrang trieb sie immer näher zum Meer, an Kanadas Westküste. Für 13 Jahre nannte sie einsame Inseln ihr zu Hause und arbeitete dort als Leuchtturmwärterin. Damals wurden ganze Familien für diese Jobs umgesiedelt. Lise kam im Helikopter, mit ihrem neugeborenen Sohn Noah im Arm, inmitten eines Sturms am ersten Leuchtturm an. Lachend erzählt sie vom unglamourösen Leben als Mermaid im Turm, die Seefahrer in die richtigen Bahnen lenkte: Außer Wachen, Kochen, Gärtnern, und Schlafen gab es nicht viel. Eine Zeit, in der sie das Meer lieben als auch fürchten lernte.
Irgendwann musste Lise raus aus der Isolation und zog nach Tofino, um mit wenig Besitz nachhaltig zu leben. Alte Dinge finden bei ihr neue Besitzer, sie gibt Kurse zum Kochen in der Natur und liebt es, mit Bull Kelp kreativ zu werden. Ihr Dorf ist für sie wie das Meer: Niemals im Stillstand und mit einer natürlichen Tide – die immer neue inspirierende Menschen anspült. Die dürfen gern auf eine Tasse Kräutertee bei ihr vorbeikommen.
Danke an alle Tofitian Girls für die tollen Gespräche! Bist du auch eine moderne Meerjungfrau? Dann verrate mir doch, wo dein Happy Place auf der Welt ist und wie du dir ein Leben am Meer vorstellen kannst. Und immer dran denken: Be whatever you want, unless you can be a mermaid. Then be a mermaid!
Titelbild: Surf Sister Tofino.