Ein Hai-Angriff ist statistisch gesehen wesentlich unwahrscheinlicher, als vom Blitz getroffen zu werden. Doch wie es mit Statistiken so ist: Sie geben nur das durchschnittliche Risiko an. An vielen Orten muss man sich überhaupt keine Sorgen machen, andere sind hochgradig gefährlich. So soll das Risiko, Opfer eines Hai-Angriffs zu werden, auf der Insel La Réunion um 1000 Mal höher sein als z.B. in Australien oder Südafrika. Erst vor Kurzem hat Pro-Surfer Jeremy Flores in „Radical Times in Reunion Island“ über die traurige Berühmtheit seiner Heimat gesprochen. Surfen und Schwimmen sind dort zwar offiziell verboten, doch trotzdem wagen sich weiterhin Furchtlose ins Wasser – und bezahlen diesen Mut manchmal mit dem Leben.
Peter Lenzyn, Baujahr 1971, verbrachte viele Jahre auf La Réunion und surfte die hohen Wellen des indischen Ozeans. Er genoss das einfache Inselleben, fand vor Ort Freunde und lernte, dass Wellenreiten dort mit Kreativität und Vorsicht funktioniert. Kreativität, weil mangels Ressourcen schon mal Kerzen als Surfwachs herhielten. Und Vorsicht, da das Meer mit seinen Strömungen und beißfreudigen Bewohnern nicht zu unterschätzen war. Nach einigen Jahren kehrte Peter dem tropischen Paradies den Rücken und hielt seine Erlebnisse im Buch „Im grünen Raum von Saint-Leu“ fest. Ein Grund für seinen Aufbruch waren die zunehmenden Hai-Attacken. Lies hier, wie er die Gefahren als Insulaner wahrgenommen hat.
Hier und Jetzt: Erinnerungen an La Réunion
Wir trafen uns alle in einem Dorf in der norddeutschen Tiefebene. Es gibt solche Anlässe, für die man sich auf einem Dorf trifft. Fünf Jahre waren seit unserem Aufbruch von La Réunion vergangen; die meisten Leute hatte ich in dieser Zeit nicht ein einziges Mal gesehen. Wir alle haben in ein Leben in Deutschland wieder hineinzufinden versucht – und mehr oder weniger war es uns gelungen, den Alltag wieder anzunehmen.
Wir unterhielten uns über unsere Arbeit, berufliche Entwicklungschancen, was wir an den Wochenenden unternahmen, wie viele Kinder wir mittlerweile hatten. Und wie wir mit den Momenten umgingen, in denen alles über uns hereinbrach. Die Frauen unter uns trugen Hosenanzug, Kostüm, knielangen Rock; die Männer Anzug, Hemd und Krawatte. So gewöhnlich, wie wir aussahen, erkannten wir uns untereinander gar nicht mehr wieder. Unsere Haut aber war etwas rascher gealtert als bei Menschen, die nicht viele Jahre auf einer tropischen Insel gelebt hatten. Die vielen Falten in unseren Gesichtern: Darin unterschieden wir uns von den anderen, die bei diesem Anlass erschienen waren.
„Der Surf-Sport gehört auf der Insel zu den Vorbestimmungen, man kann Surfen als Abiturfach wählen. Das ist Privileg und Glück. Wer das Surfen während des Aufwachsens erlernt, der wird immer ein sehr gutes Verständnis für das Meer und die Wellen mitbringen.“ (Peter Lenzyn im goodtimesmag)
La Réunion: (1) Bevölkerung, (2) Palme in Peters Garten, (3) Berglandschaft, (4) Surfer in Roches Noires
Damals hatten wir alle so ziemlich den gleichen Grund, La Réunion zu verlassen. Wir hatten das aber erst spät zugegeben. Zuerst sprachen wir von plötzlich entstandenen Verpflichtungen auf dem Festland, von sich aufgetanen Chancen, von Interessen, denen wir endlich einmal nachgehen wollten, von einem Krankheitsfall in der Familie, der uns keine andere Wahl ließ. Das waren die Gründe, die wir erst einmal vorschoben. Viel später nannten wir die Hai-Attacken, die wachsende Angst.
Leben mit den Haien auf La Réunion: Eine Rückblende
Es begann am 19. Februar 2011 um 18.30 Uhr. Eric Dargent verlor sein Bein. Nur wenige Monate später der Tod von Eddy Auber in Boucan Canot. Das war am 15. Juni. Einen Monat später zwei leichtere Attacken, dann – wieder in Boucan Canot – der Tod von Mathieu Schiller. Im Oktober fand man eine Frauenleiche mit Bissspuren vom Hai. Im November wurde ein Speerfischer gebissen; er überlebte. Bis zum Ende des Jahres 2011 zählte man auf diese Weise acht Attacken, drei davon tödlich.
Das Meer ist blau. Und es ist türkis, und es ist grün – für den, der am Strand sitzt und rausschaut, wer im Wasser planscht, wer aus dem Flugzeug schaut, wer in Reisekatalogen blättert und in die Sonne will. Aber wenn Sie weit draußen auf offener See schwimmen, dort, wo die Fische nicht bunt und klein sind und wie Spielzeug aussehen, sondern grau und groß. Wenn Sie dort in den hohen Wellen schwimmen, in denen Sie Wasser schlucken und um Hilfe schreien, dann ist das Meer schwarz. (…) Und wer das nicht weiß, der unterschätzt es.“ (Im grünen Raum von Saint-Leu)
![La Reunion - schwarzes Meer](https://meerdavon.com/wp-content/uploads/2017/06/waves-422158_1920.jpg)
Das Meer auf La Réunion in seiner düstersten Farbe (Foto: Pixabay)
Gefahren und Schutzmaßnahmen
Angesichts der omnipräsenten Gefahr versuchte man im Jahr 2011, weitere Hai-Angriffe auf La Réunion zu unterbinden. Behörden sperrten die Strände ab, stellten Schilder auf, mit denen das Surfen verboten wurde. Die Polizei fuhr die Wellen mit den Jet Skis ab und schrieb sich die Namen der „Sünder“ auf, die das Surfverbot missachteten. Erst wurden Mahnungen erteilt, später Geldstrafen verhängt. In der Bucht von Boucan Canot wurde ein Netz gespannt – zuerst am nördlichen Ende, also dort, wo auch das Felsenbecken ist, in dem junge Familien badeten. Niemand wollte sich vorstellen, was geschehen könnte, wenn ein Bullenhai in dieses Felsenbecken eindrang. Später wurde auch ein Netz weiter südlich der Bucht gespannt, ungefähr dort, wo das Hotel Alexis ist.
An einem Tag blieb ich sehr lange im Wasser. Die Sonne war untergegangen, es wurde dunkel, das Meer wurde schwarz – ich wollte noch eine Welle nehmen und noch eine. (…) Jetzt, da die Dunkelheit gekommen war, sprangen die Schwärme um mich herum aus dem Wasser. (…) Zwei der von meinem Gesicht abprallenden Fische sprangen noch ein wenig auf meinem Surfbrett herum, bevor sie wieder im Wasser verschwanden. Es waren schwarze, schwere Tiere, und ich fragte mich, um wie viel größer der Fisch war, der sie jagte.“(Im grünen Raum von Saint-Leu)
La Réunion: (1) Surfer in Roches Noires, (2) Crowd bei Trois Bassins, (3) Warnung vor Strömung und Haien
Rückkehr zur Normalität?
Von dem Netzbau auf La Réunion versprach man sich viel. Das Surfen wurde wieder erlaubt. Auch wir gingen zum Surfen in die Bucht von Boucan Canot. Natürlich versuchten wir, uns an die „Regeln“ zu halten: Wir surften nicht nach fünf Uhr abends; wir surften nicht bei bewölktem Himmel; wir surften nicht nach starkem Regen.
Wie wir den Strand entlangliefen, sahen wir dort eines Tages jemanden im Sand sitzen. Ein junger Mann, der auf das Meer und die Wellen schaute. Ihm fehlte ein Arm und ein Bein, im Sand lag eine Krücke. Wieso hatte der Hai zweimal zugebissen? Bullenhaie greifen ein erstes Mal an und verwunden ihre Beute. Wenn sie einen Menschen attackiert haben, greifen sie kein zweites Mal an. Eigentlich nicht…
Die Surflehrer begannen, sich in der Presse zu melden. Solche Haiattacken gäbe es sehr selten. (…) Haie wären abends ganz besonders aktiv, sie suchten Wasserkanäle wegen der darin herumschwimmenden Fleischabfälle auf und konnten im trüben Wasser und bei bewölktem Himmel einen Fisch nicht von einem Bodyboarder unterscheiden. (…) Wer einfache Grundregeln beachtete, der würde nicht von einem Hai attackiert werden. Dann forderten die Surflehrer die Eltern auf, ihre Kinder wieder in die Surfschulen zu schicken.“(Im grünen Raum von Saint-Leu)
![Spielende Kinder, Ile de Natte im Osten von Madagaskar](https://meerdavon.com/wp-content/uploads/2017/06/Ile-de-Natte-im-Osten-von-Madagaskar.jpg)
Spielende Kinder, Ile de Natte im Osten von Madagaskar
Erklärungsversuche: Warum sind die Haie auf La Réunion so aggressiv?
Es gab viele Erklärungen für die Haiattacken an den Surfspots. Die Fischer sagten uns, dass sie nicht mehr hinausfuhren zum Fischen, weil sie nichts mehr fingen. Das Meer sei überfischt und die Umweltverschmutzung tue den Rest. Deshalb finden auch Haie keine Nahrung mehr und müssten näher an die Strände von La Réunion kommen. Dorthin, wo maritime Naturschutzgebiete eingerichtet waren, die ihnen mit ihrem Fischreichtum Nahrung boten. Außerdem gab es in der Bucht von Saint-Gilles eine Fischfarm, wo Speisefische in riesigen Käfigen gezüchtet wurden. Davon wurden die Haie angelockt.
Was die Fischer nicht sagten, hörte ich aus einer anderen Quelle: Die Haie folgten den Fischerbooten bis in den Hafen und ernährten sich von den Fischabfällen, die über Bord geworfen wurden. Das gestörte ökologische Gleichgewicht erklärte auch das Verschwinden der Schwarzspitzen- und Weißspitzenhaie. Als mittelgroße Riffhaie hatten sie ihre Territorien entlang des Riffs verteidigt und die aggressiven Bullenhaie nicht in die Lagunen gelassen. Doch nun waren sie nicht mehr da.
Foto „fishing the sun“ by rey perezoso, used and cropped under CC BY-SA 2.0
Vorbei: Abschied von La Réunion
Die in Boucan Canot aufgespannten Netze halfen nicht; bald gab es eine Attacke im Netz. Die Strände wurden wieder gesperrt und das Surfen verboten. Wieder fuhr die Polizei mit dem Jet Ski die Wellen ab und verhängte Geldstrafen. Im Süden der Insel hörten wir von weiteren Attacken, die mittlerweile von der internationalen Presse aufgegriffen wurden. Das war der Moment, als wir entschieden, La Réunion zu verlassen. Und unser Leben wieder dort aufzunehmen, wo wir es in Deutschland hinter uns gelassen hatten.
In den fünf Jahren, die wir wieder in Deutschland waren, gingen wir unserer Arbeit nach, erfüllten unsere Pflichten und zogen unsere Kinder auf. Davon erzählten wir uns bei diesem Anlass, beim Treffen in einem Dorf in der norddeutschen Tiefebene.
Neue Erkenntnisse von Meeresforschern
Doch wir kamen auch auf diese Hai-Attacken zu sprechen und auf die vielen Erklärungen. Nachdem wir La Réunion verlassen hatten, wurde ein Forschungsprojekt in die Wege geleitet. Es wurden Haie eingefangen und mit Sendern ausgestattet, um zu erforschen, wie sich die Haie bewegen. Bullenhaie vermehren sich in den Wintermonaten. In dieser Zeit zeigen männliche Tiere in Konkurrenz um Weibchen eine hohe Aggressivität. Vor allem dann fanden Attacken auf Menschen statt. Bei dem Forschungsprojekt wurde ebenfalls festgestellt, dass Bullenhaie vor La Réunion drei Meter lang werden – und damit wesentlich länger als irgendwo sonst auf der Welt. Vor La Réunion haben sie offensichtlich ein ideales Biotop gefunden.
Foto „Bull shark (Carcharhinus leucas)“ by Sylke Rohrlach, used and cropped under CC BY-SA 2.0
Gibt es eine Rückkehr nach La Réunion?
Für die meisten liegt die Zeit auf La Réunion hinter uns. Der eine oder andere hat vage Pläne, dort einen Urlaub zu verbringen. Viel öfter aber geht es an den Atlantik, der während eines dreiwöchigen Urlaubs mindestens einen guten Swell hat. Nicht alle von uns surfen noch. Bei dem einen funktioniert das Knie nicht mehr richtig, bei dem anderen der Rücken, mancher von uns ist schwerer geworden. Wir schauen uns an, lachen ein wenig, fügen uns in die Gesellschaft ein, die zu diesem Anlass zusammengekommen ist; bald sprechen wir mit anderen Menschen und verlieren uns.
Peter Lenzyn (1) beim Surfen auf La Réunion und (2) in Diego Suarez
Über La Réunion wissen die meisten, abgesehen von Medienberichten über Hai-Angriffe, nur sehr wenig. Die Insel gleicht einem bitter-süßen Geheimnis: Ein tropisches Paradies mit verlockenden Wellen, in dem Surfen waghalsig ist und dich das Leben kosten kann. Peter Lenzyn gewährt uns in seinem Buch „Im grünen Raum von Saint-Leu“ – benannt nach einem bekannten Surfspot – intime und teils autobiografische Einblicke in das Leben auf La Réunion. Über die Eigenheiten des kleinen Eilands, seine eingeschworene Surfszene und Surfen an einem Ort, an dem die Gefahr im Meer immer mitschwimmt. Hochgradig spannend und ein Surfroman, wie es ihn wahrscheinlich kein zweites Mal geben wird! Ihr könnt Peter Lenzyns Buch „Im grünen Raum von Saint-Leu“ bei Amazon oder direkt beim Mitteldeutschen Verlag kaufen.
Alle Fotos, soweit nicht anderweitig angegeben, wurden mit freundlicher Genehmigung von Peter Lenzyn verwendet. Titelbild: Pexels via Pixabay.
5 comments
Ich war letzten November für ein paar Wochen auf La Réunion – eine traumhafte Insel, nicht nur an der Küste, sondern auch im Landesinneren!
Aber es ist schon ein sehr bedrückendes und trauriges Gefühl, wenn man am Strand entlangläuft, überall Verbotsschilder sieht und das Meer komplett leer ist, bei eigentlich traumhaften Bedingungen. Die schönsten Wellen und keiner im Wasser…. ????
Hallo Tati,
Die Bilder, die ich von La Reunion gesehen habe, sind fantastisch! Da bekommt man glatt selbst Lust auf einen Besuch…
Aber du hast recht, ein „gesperrtes“ Meer würde mich ebenfalls sehr bedrücken. Ich bin gespannt, wie sich La Reunion in Zukunft entwickeln wird und was die Meeresforschung zum Haiaufkommen noch herausfindet!
Liebe Grüße
Heidi
Gibt es denn auf der Insel überhaupt keine Möglichkeiten mehr zum surfen und zum tauchen?
Dann möchte doch keiner mehr dort Urlaub machen.
Surfen und andere Wassersportaktivitäten wie Tauchen oder Schwimmen sind auf La Reunion an vielen Stränden verboten. An anderen stehen nur Warnschilder, und einige werden den Touristen zum Schwimmen freigegeben, weil man Netze installiert hat. Und ja, du hast recht: Viele fahren deshalb zum Urlaub machen lieber woanders hin. Selbst viele alt-eingesessene Locals, so wie auch Peter Lenzyn (der Autor dieses Artikels), kehren der Insel langsam den Rücken.
Wir waren gerade dort. Man kann in hermitage herrlich baden und schnorcheln. Ich war auch von st. Gilles aus tauchen und schnorcheln mit den Walen. Eine herrliche Insel.